Die magische Eiche

 

Tom wachte mitten in der Nacht auf.

Irgendein Geräusch hatte ihn geweckt. Es war, als ob er es draußen rascheln und pfeifen gehört hätte. Tom schaute kurz auf, gähnte und verkroch sich wieder unter die Bettdecke.

Doch als er gerade dabei war, wieder einzuschlafen, hörte er es wieder. Diesmal war es ein Rascheln und Knacksen. Vielleicht kam ein Sturm auf.

Bei diesem Gedanken sprang Tom schnell aus dem Bett und sah aus dem Fenster.

Draußen wehte ein heftiger Wind. Die schmale Birke, die vor ihrem Haus stand, bog und krümmte sich. Ein paar Blätter wirbelten durch die Luft.

Tom hörte wieder das Knacksen.

 

Er musste dringend nachsehen, ob es seinen Kaninchen, die im Garten in dem kleinen Holzstall schliefen, gut ging.

Tom zog sich die blauen Sneakers an und schlüpfte in seine Regenjacke.

Im Bett daneben schlief seine Schwester Ida friedlich und ruhig. Sie schien absolut nichts mitzubekommen.

Die beiden hätten sich schon längst ein eigenes Zimmer gewünscht, aber dafür müsste im Haus ein kleiner Umbau gemacht werden. Und das würde erst im nächsten Jahr passierten, sagte Papa.

 

Im Haus war es mucksmäuschenstill. Tom war wohl der Einzige, der vom Sturm aufgewacht war.

Als er die Haustür öffnete, kamen ihm ein paar Blätter entgegen geflogen. Hui, das stürmte ganz schön!

Tom setzte sich die Kapuze auf und lief so schnell er konnte zu dem kleinen Kaninchengehege. Er öffnete den Stall und sah, wie die drei ganz still und friedlich aneinander gekuschelt im Stroh lagen. Zum Glück ging es ihnen gut!

Als er wieder zurück ins Haus wollte, stand Ida in der Haustür. Sie war aufgewacht und wollte wissen, wo ihr Bruder war.

Schlaftrunken stand sie da, mit dickem roten Pulli und zerzaustem Haar. Tom musste Ida ganz schnell wieder nach oben bringen!

 

Da hörte er plötzlich seinen Namen:

„Tom, Tom, Tom“

Er drehte sich um und spähte in die Dunkelheit.

Aber da war niemand.

Da hörte er es wieder.

„Tom, Tom, Tom.“

„Wo bist du?“ fragte er.

So gut es ging zog sich Tom die Kapuze ins Gesicht und schlug beide Arme um den Körper. Er hatte ein wenig Angst, doch er wollte sie sich nicht anmerken lassen.

„Hier bin ich.“

Die Stimme kam aus dem dünnen Geäst der Birke.

„Ich kann dich nicht sehen“ rief Tom in den Sturm hinein.

Da kam plötzlich vom Garten her ein Windstoß, sodass sich die dünnen Äste vor lauter Druck nur so bogen.

Schützend hielt sich Tom die Hände vors Gesicht.

„Ich stehe direkt vor dir“ sagte die Stimme.

Als die Windböe nachließ, öffnete Tom wieder die Augen.

Vor ihm war niemand, bis auf die Birke, die Papa im vergangenen Jahr am liebsten abgeschnitten hätte. Im Frühling zu viel Blütenstaub und im Herbst zu viele Blätter, meinte er.

„Na, siehst du mich jetzt? Ich bin's, die Birke.“

Tom rieb sich die Augen. Seit wann konnten Bäume denn sprechen?

„Immer schon“ sagte die Birke, ohne dass Tom seine Frage laut gestellt hätte.

„Aber nicht jeder kann mich hören, ok?“

Tom fröstelte. Vielleicht sollte er sich in den Arm zwicken, damit er aus seinen Träumereien erwachte.

„Tom, ich habe dich gerufen, weil du heute Nacht etwas Besonderes erleben kannst“ sagte der Baum „komm mit in den Wald. Dort wartet ein Abenteuer auf dich.“

Tom zog eine Grimasse. Zuerst hatte er es mit einem sprechenden Baum zu tun und dann sollte er auch noch in den Wald. Und das bei der Dunkelheit!

„Ich muss morgen in die Schule, ich kann nicht mitkommen“ sagte Tom.

„Magst du denn keine Abenteuer?"

"Doch schon" antwortete Tom leise.

"Dann komm mit. Du wirst es bestimmt nicht bereuen."

 

Tom war kein ängstlicher Junge. Er war 9 Jahre alt und ziemlich selbständig. Wenn seine Eltern in der Arbeit waren, verbrachten er und Ida die Nachmittage bei den Kaninchen. Oder bei Oma, die nicht weit weg wohnte. Manchmal trafen sie sich auch mit ihren Freunden. Dann tobten sie meist im Wald herum und bauten sich kleine Hütten aus Tannenzweigen, Moos und Steinen. Vor dem Wald hatte Tom keine Angst.

 

„Na gut, ich komme mit.“

Als er das sagte, wurde es plötzlich mucksmäuschenstill. Der Sturm legte sich von einer Sekunde auf die andere und die Birkenblätter bewegten sich nur noch leicht. Es war, als hätte jemand einen Schalter umgestellt.

„Gut, dann lass uns gehen“ sagte der Baum.

Gerade als Tom sich fragte, wie sich eine Birke von einem Ort an den anderen bewegen würde, sah er, wie sich der Stamm aus dem Boden löste und das gesamte Wurzelwerk sich in riesige Füße verwandelte. Die Birke schüttelte kurz ihre Baumkrone, dann hielt sie inne und sah sich um.

 

„Halt, wir haben jemanden vergessen. Deine Schwester kommt natürlich auch mit!“

 

Die Birke machte einen Schritt auf das Haus zu und verneigte sich vor Ida.

Tom war ein wenig zerknirscht. ER sollte doch das Abenteuer erleben und nicht seine kleine Schwester!

Ein bisschen widerwillig nahm er Ida an die Hand und beide folgten der Birke, die mit großen Schritten Richtung Wald stapfte. Tom und Ida kannten den Weg, doch es war so dunkel, dass sie kaum ihre eigenen Schuhspitzen sahen.

 

„Hey, nicht so schnell“ rief Tom.

Die Birke lief ein paar Meter voraus und die beiden Geschwister hatten ihre größte Not, dem Baum zu folgen.

Nun verlangsamte die Birke ihr Tempo.

 

Mittlerweile hatte sich der Sturm komplett gelegt und die Luft wurde milder. Bis auf die leisen Schritte und das Rascheln der Birkenblätter hörte man nichts.

Tom und Ida kam es vor, als wären sie an einem fremden Ort in einer anderen Zeit gelandet.

 

Als sie am Waldrand ankamen, hielt die Birke an. Sie schüttelte sich und bog ihren Stamm von links nach rechts. So, als würde sie ihre Muskeln dehnen und strecken.

 

„Was für ein anstrengender Marsch“ sagte die Birke und seufzte.

Tom und Ida schauten sich an und grinsten. Für wen der Fußmarsch wohl anstrengender gewesen war?

 

Plötzlich kam aus dem Wald ein Licht. Zuerst war es nur ein schwacher Schimmer in weiter Entfernung. Dann kam das Licht näher und näher, bis es den gesamten Waldrand erleuchtete.

Das Licht schien so hell, dass sich Tom und Ida die Hand vor die Augen halten mussten, um nicht geblendet zu werden.

 

Da sahen sie zwischen den Baumstämmen ein Tier. Es stand ein paar Meter entfernt und schaute sie an.

Es war ein Hirsch, erhaben und groß und mit einem Geweih, das strahlte, als hätte man an einem Leuchter alle Kerzen angemacht.

 

„Ich habe euch schon erwartet“ sagte der Hirsch.

Tom nahm Idas Hand und drückte vor lauter Aufregung fest zu.

„Es ist mir eine Ehre, euch heute begleiten zu dürfen. So folgt mir und habt keine Angst. Ich bringe auch an einen magischen Ort, den ihr niemals vergessen werdet."

 

Ida wollte nach Hause, doch Tom hielt ihre Hand so fest, dass sie keine Chance hatte, abzuhauen.

Er hatte selbst weiche Knie, aber er wollte der Birke, dem Hirsch und vor allem Ida beweisen, dass er abenteuerlustig und mutig war.

 

Die Birke verabschiedete sich von ihnen und machte sich mit schnellen Schritten auf den Heimweg.

Tom und Ida sahen ihr wehmütig nach. Dann folgten sie dem Hirschen in den Wald.

 

Die Bäume standen dicht und sie kämpften sich durch das Gewirr an Unterholz und Farnkraut. Doch dem Tier zu folgen war leicht, denn es bewegte sich langsam und es erhellte mit seinem leuchtenden Kopfschmuck den Weg.

Als sie an eine Weggabelung kamen, führte sie der Hirsch auf ein Waldstück, das bewachsen war mit unzähligen weißen Waldlilien und dicken Grasbüscheln.

 

„Wann sind wir endlich da?“ wollte Tom wissen.

„Bald“ antwortete der Hirsch.

„Ich will nach Hause“, sagte Ida. Sie gähnte. Der Fußmarsch hatte sie müde gemacht.

Der Hirsch drehte sich um.

„Von hier aus ist es nicht mehr weit. Ihr werdet sehen." sagte er.

Ida gab sich einen Ruck und ging weiter, denn vor dem Hirsch hatte sie größten Respekt.

 

Nach einer Weile kamen sie bei einer Waldlichtung an. Die Fläche war bemoost und in der Mitte stand ein riesiger Baum. Doch es war kein gewöhnlich riesiger Baum. Nein, es war der größte Baum, den Tom und Ida jemals gesehen hatten. Der Stamm war so dick wie drei Elefantenfüße und seine Baumkrone war mindestens so breit wie ein halbes Fußballfeld.

 

„Herzlich willkommen bei der magischen Eiche“ sagte der Hirsch.

„Hier könnt ihr euch ein wenig ausruhen. Und wenn ihr wieder bei Kräften seid, könnt ihr dem Baum alle Fragen stellen, die ihr wollt. Seid gewiss, dass ihr auf alles eine Antwort erhalten werdet. Ich bleibe in eurer Nähe. Ruft nach mir, wenn ihr bereit seid für den Rückweg."

 

Tom und Ida legten sich ins Moos. Sie waren erschöpft und ihr Magen knurrte.

Da spürten sie plötzlich, wie sich die Luft veränderte. Eine leichte Brise zog auf und die Blätter der Eiche raschelten sanft.

 

„Ich freue mich, dass ihr gekommen seid“ sagte eine Stimme.

„Wie ihr wisst, bin ich die magische Eiche. Ach, über Magie könnte ich euch so einiges erzählen. Es gäbe so viel Interessantes zu berichten. Doch wenn ich erst einmal mit dem Erzählen beginne, dann kann ich nicht mehr aufhören. Deshalb: stellt mir nun gleich eure Fragen.“

Tom und Ida schauten sich an. Schon wieder ein sprechender Baum!

 

„Fragen, was sollen wir für Fragen stellen?“

„Ihr könnt mich alles fragen, was ihr schon immer wissen wolltet. Zum Beispiel, wie man eine Giraffe in ein Klassenzimmer bringt oder wie man die schnellste Rakete baut, um zum Mars zu fliegen.“

„Das ist ja toll. Dürfen wir alles, wirklich alles fragen?“

„Ja, nur zu."

Tom und Ida grinsten sich an und überlegten sich ihre Fragen.

 

„Was gibt es morgen bei Oma zu Mittag?“ fragte Ida.

Tom zog eine Grimasse. Eine doofere Frage hätte Ida nicht stellen können.

„Wann kriegen meine Kaninchen Junge?“ rief er laut.

 

Gespannt warteten Tom und Ida auf ihre Antworten.

Doch es kam nichts.

Sie warteten noch ein Weilchen, doch die Eiche blieb stumm.

 

„Also, was gibt es morgen bei Oma zu Mittag?“ wiederholte Ida.

„Ja genau, und wann bekommen meine Kaninchen endlich Junge“ fragte Tom noch einmal.

 

Keine Antwort.

Stille.

Nichts.

 

Tom und Ida schauten sich an.

„Hat der Hirsch nicht gesagt, dass...“

Tom war sauer.

„Bitte sag mir jetzt, wie ich all das bekomme, was ich mir wünsche" platzte es aus ihm heraus.

 

Tom stand auf und stieß mit seinem Fuß einmal fest gegen den Baum.

Doch es half alles nichts. Die Magische Eiche war verstummt.

 

Müde und enttäuscht legten sich die beiden Geschwister ins Moos und fielen bald darauf in einen tiefen Schlaf.

 

Ida hatte einen Traum.

Sie träumte von der Schule und dass sie beim Alphabet gerade den Buchstaben E lernten. Die Lehrerin machte ein paar Beispiele von Wörtern, die mit E anfingen: Elefant, Europa, Essen...Essen?

Auf einmal träumte Ida, dass sie bei Oma in der Küche saß. Sie war sehr hungrig von der Schule gekommen und konnte es kaum erwarten, bis das Essen fertig war.

Heute gab es Gemüsebuletten mit Reis und Soße. Ida liebte dieses Gericht. Da roch es in Omas Küche immer so nach Gebratenem. Sie träumte, wie Oma ihr den Teller hinstellte und "Guten Appetit" sagte.

 

Auch Tom hatte einen Traum.

Es war Herbst und er konnte sehen, wie die Birke in ihrem Garten langsam die Blätter verlor. Ein gelbes Blatt nach dem anderen fiel herab und landete auf dem Kaninchenstall.

In dem Stall hockte das Weibchen mit 5 kleinen Kaninchen, die sich dicht zusammengekauert in ihrem warmen Fell verkrochen. Wie süß die Kleinen waren!

Tom hatte jetzt ein bisschen mehr Arbeit mit seinen Tieren. Fast jeden Tag mistete er den Stall aus, denn er wollte, dass es die Jungen schön haben.

 

Während Tom von den Kaninchen träumte, sah er sich gleichzeitig in seinem Zimmer. Er saß an seinem Schreibtisch und machte Hausaufgaben. Während er das Einmaleins übte, schaute er gedankenverloren aus dem Fenster. Er hatte Hunger und dachte an ein Honigbrot. Wie lecker ein Honigbrot jetzt doch wäre!

Er stellte sich die ganze Zeit ein Honigbrot vor und musste so sehr daran denken, dass ihm das Wasser im Mund zusammenlief. Vor sich sah er eine dunkle Scheibe Vollkornbrot mit dick Butter drauf. Und dann noch eine Schicht mit köstlichem Waldhonig. Den, den Oma immer beim Bauern kaufte. Das Wasser im Mund lief ihm noch mehr zusammen. Aber bevor es Abendbrot gab, musste er noch seine Hausaufgaben machen. Schließlich wurde das Einmaleins am nächsten Tag abgefragt.

Später kam Tom in die Küche. Mama war da und hatte das Abendbrot vorbereitet. Und was sah er da auf seinem Teller? Ein Honigbrot! Das, was er sich gewünscht und vorgestellt hatte. Konnte Mama Gedanken lesen?

 

Beinah gleichzeitig erwachten Tom und Ida aus ihrem Schlaf. Sie rieben sich die Augen und schauten sich um.

Bei der magischen Eiche war alles ruhig. Nur ein paar Blätter fielen herab.

 

„Morgen gibt es Gemüsebuletten mit Reis!“ sagte Ida begeistert, als sie ganz wach war.

„Und meine Kaninchen haben Junge!“

„Was, so schnell geht das?“

„Nein, erst im Herbst“ sagte Tom trocken. Er freute sich jetzt schon auf das Ereignis, auch wenn er sich dann mehr um die Tiere kümmern müsste.

 

„Ich glaube, die magische Eiche hat uns ihre Antworten im Traum gegeben“ sagte Ida „wie sie das bloß gemacht hat?“

Tom zuckte mit den Schultern.

„Und, hat dir die magische Eiche auch verraten, wie deine Wünsche in Erfüllung gehen?“

„Ich glaube ja“ sagte Tom.

„Und, verrätst du es mir?“

„Vielleicht ein anderes Mal“ antwortete Tom und zwickte seine Schwester in den Arm.

Er hatte verstanden: Wenn man sich etwas wirklich wünscht, dann muss man es sich nur vorstellen und zwar so, als wäre es echt. Dann gehen alle Wünsche in Erfüllung.

 

„Jetzt müssen wir aber schnell nach Hause“ sagten beide gleichzeitig.

Sie riefen ihren Freund den Hirsch, der schnell zur Stelle war und sie mit seinem leuchtenden Geweih sicher nach Hause führte.

 

Es wurde schon langsam hell, als sie ihr Elternhaus erreichten.

Im Garten war es ruhig und die Birke stand da, als ob nie etwas geschehen wäre.

Doch als Tom und Ida ins Haus gingen, kam es ihnen vor, als hörten sie vom Garten her ein leises "Gute Nacht".

"Gute Nacht" antworteten die beiden.

Schnell schlichen sie sich in ihr Zimmer und verkrochen sich in den Betten.

Bald würde Mama sie wecken.

 

 

Copyright © 2019 Christina Vikoler