Die verlorenen Träume

 

Es war einmal ein Mann, der keine Träume mehr hatte. Er fristete ein sehr trauriges Dasein, denn sein Alltag war eintönig und grau.

Jeden Tag stand er auf, schaute missmutig in den Spiegel und ging dann niedergeschlagen zur Arbeit. Im Büro verrichtete er fast alles schematisch, denn er wusste genau, was er zu tun, zu sagen und zu schreiben hatte. Alles lief wie automatisch und er musste gar nicht mehr darüber nachdenken, was er da tat. Seine Stifte lagen immer geordnet an dem selben Ort und in seinen Kaffee, den er sich pünktlich alle zwei Stunden an einem Automaten holte, gab er immer genau eineinhalb Löffel Zucker. Um Punkt zwölf Uhr ging er jeden Tag in die Kantine und bestellte sich zwei Frikadellen mit Kartoffelsalat.

Dann arbeitete er weiter bis fünf und ging dann nach Hause, wo er sich auf sein Sofa setzte und im Fernsehen eine Quizshow ansah.

Seinen Kollegen ging es ähnlich wie dem Mann: Sie standen jeden Tag zur selben Zeit auf, nahmen immer das selbe Frühstück ein und sprangen in den gleichen Bus.

Nur in der Zeitung, die sie jeden Morgen lasen, stand immer etwas anderes. Immer gleich aber war, dass alles, was sie lasen, ziemlich traurig und deprimierend war. Nicht nur dem Mann ging es so, sondern fast allen, die er kannte.

 

Eines Tages, an einem wunderschönen strahlenden Herbsttag, war etwas anders. Der Mann ging nach dem Mittagessen nicht wie gewohnt in sein Büro zurück, sondern beschloss, in den nahe gelegenen Park zu gehen. Irgendetwas bewog ihn dazu, an diesem Tag seine Routine zu durchbrechen und er wunderte sich fast über sich selbst, dass er dies tat.

Der Mann setzte sich auf eine Bank und schaute den Kindern beim Ballspielen zu. Er genoss die warme Herbstsonne und fragte sich, warum er vorher noch nie auf die Idee gekommen war, seine Mittagspause im Park zu verbringen. Wahrscheinlich werde ich langsam alt, dachte er bei sich.

 

Als er so dasaß und vor sich hin schaute, kam auf einmal ein kleiner Junge, der dem Ball hinter rannte, in seine Richtung gelaufen.

Der Junge holte sich den Ball, der vor den Füßen des Mannes gelandet war und umschlang ihn mit seinen Armen. Doch bevor er wieder zu den anderen Kindern zurück lief, drehte er sich noch einmal um und sah den Mann, der da alleine auf der Bank saß. Irgendetwas schien ihn zu faszinieren, denn sein Blick blieb an ihm haften und so starrte der Junge den Mann ziemlich unverdrossen an. Der Junge sah den Mann an und der Mann den Jungen.

Nachdem eine halbe Ewigkeit vergangen war, zumindest kam es dem Mann so vor, fragte der Junge plötzlich: „Bist du traurig?“.

Der Mann war ganz überrascht, dass der Junge so etwas fragte, denn ihm war gar nicht bewusst, dass er traurig war oder traurig aussah. Er hatte sich so an sein Leben gewöhnt, dass er nichts mehr anderes kannte.

Der Mann schaute den Jungen an und schüttelte den Kopf. 

"Du siehst aber nicht glücklich aus", sagte der kleine Junge. 

Der Mann, der sich nichts anmerken lassen wollte, war jetzt innerlich sehr berührt und musste sich eine kleine Träne aus den Augen wischen. Er wollte nicht als schwach dastehen und sich seine Traurigkeit, an die er sich mittlerweile gewöhnt hatte, nicht anmerken lassen. Er wünschte sich in dem Moment, dass dieser Junge weggehen und ihn in Ruhe lassen würde. Schließlich hatte er ja Mittagspause und wollte ungestört die Sonne genießen.

Aber der Junge blieb weiter vor ihm stehen und schaute ihm direkt in die Augen. Plötzlich sagte er: „Du hast deine Träume verloren, deshalb bist du so traurig. Ich kann es genau sehen.“

Jetzt wurde der Mann richtig wütend und er war erbost darüber, was sich dieser Junge alles erlaubte. Ihm so etwas ins Gesicht zu sagen!

Dem Mann stieg vor lauter Zorn die Röte ins Gesicht. Er stand auf, schob den Jungen grob zur Seite und ging wutentbrannt zurück in sein Büro.

 

Den ganzen Nachmittag aber ging ihm der Junge und nicht mehr aus dem Kopf. Es fiel ihm plötzlich schwer, seine Arbeit zu erledigen, weil er die ganze Zeit an die Worte des Jungen denken musste. Der Mann ärgerte sich, dass er nach der Kantine noch in den Park gegangen war und nicht, wie sonst immer, zurück an den Schreibtisch.

Dieser dumme Junge würde sicher bald aus seinem Kopf verschwinden und dann könnte er sich wieder ganz seinen Aufgaben im Büro widmen. Wie hatte er sich nur so ablenken lassen können!

 

Doch schon am nächsten Tag fiel ihm gleich beim Frühstück der Junge wieder ein und er musste wieder an dessen Worte denken. Und so ging es am übernächsten Tag, am überübernächsten und am überüberübernächsten Tag weiter. Der Mann versuchte, mit aller Kraft auf andere Gedanken zu kommen und so gelang es ihm nach etwa zwei Wochen, dass der Junge  komplett aus seinem Gedächtnis verschwand.

 

Doch eines Montagmorgens geschah etwas Unerwartetes. An diesem Tag klingelte der Wecker nicht wie gewohnt um Punkt sechs, sondern um fünf vor. Verwundert schaute der Mann auf das Ziffernblatt und schüttelte den Kopf, weil er sich die Ungenauigkeit des Weckers nicht erklären konnte. Der Mann wollte aufstehen, aber irgendetwas hielt ihn im Bett. Er grübelte darüber nach, ob sein Wecker jetzt wohl jeden Tag ungenau sein würde und ob er sich jetzt vielleicht eine Funkuhr zulegen sollte. Und während der Mann im Bett so vor sich hin grübelte und grübelte, fiel ihm aus heiterem Himmel der Junge wieder ein. Plötzlich hatte er die ganze Situation wieder klar vor Augen und er erinnerte sich an das, was an dem sonnigen Tag im Herbst geschehen war. 

 

Mit einem Ruck setzte sich der Mann in seinem Bett auf und von einer Sekunde auf die andere fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Der Junge hatte die Wahrheit gesagt. Die ganze traurige Wahrheit. Er hatte seine Träume verloren. Und er war deprimiert. Ja, er war ein Mensch mit einem traurigen Leben. Über all die Jahre hinweg waren ihm seine Träume nach und nach abhanden gekommen und er hatte sie alle aufgegeben. Jetzt hatte er gar keine Träume mehr!

 

Diese Erkenntnis machte ihn so traurig, dass er anfing zu weinen und seine Tränen nur so auf sein Bettlaken kullerten. Der Mann weinte und weinte und als er nach einer ganzen Weile aufhörte zu weinen, war es ihm ein wenig leichter ums Herz und er erinnerte sich an den kleinen Jungen, der er selbst einmal war und der davon träumte, mit einem Heißluftballon um die Welt zu fliegen und spannende Abenteuer zu erleben. Er erinnerte sich auch daran, dass dieser kleine Junge davon geträumt hatte, etwas mit Holz zu machen und daraus wunderschöne Dinge zu fertigen, wie etwa Möbel oder wundersame Spielsachen oder besondere Holzfiguren. Und er erinnerte sich, dass er einst davon geträumt hatte, nach Afrika zu reisen, um dort die wilden Tiere zu beobachten und in der freien Natur den weiten Sternenhimmel zu bewundern.

 

Und was war aus all diesen Träumen geworden?

Er hatte sie alle verloren und sie über viele Jahre vergessen.

Dem Mann wurde mit einem Mal bewusst, was er sich selbst und seinem Leben angetan hatte und dass aus ihm eine hohle Marionette geworden war. Der kleine Junge hatte in sein Herz gesehen und ihm die Augen geöffnet. 

 

An diesem Tag beschloss der Mann, nicht ins Büro zu gehen. Er setzte sich in den Park, wo er dem Jungen begegnet war und machte sich selbst ein Versprechen. Er beschloss, all seine verlorenen Träume wieder einzusammeln, sie in ein kleines Säckchen zu stecken und sie dann nach und nach alle einzeln zu verwirklichen. 

 

Hat dir diese kleine Geschichte gefallen?

Nun, ich würde wetten, sie hat dich ein klein wenig zum Nachdenken gebracht.

Und, weißt du was? Deshalb habe ich dir diese Geschichte auch erzählt.

Denn deine Träume sind wichtig. Deine Träume dürfen nicht verloren gehen wie bei dem traurigen Mann.

Wir müssen unsere Träume und Wünsche ernst nehmen, sehr ernst. Denn unsere Träume gehören zu uns, so wie unsere Talente und Fähigkeiten.

Jeder Mensch hat andere Träume. Deine Träume werden sich höchstwahrscheinlich von meinen unterscheiden. Und deine Träume sind nicht besser als meine, aber alle Träume haben gemeinsam, dass sie sehr kostbar sind. Deshalb dürfen wir sie nicht verlieren. 

Träume sind nicht einfach nur da, um da zu sein. Es gibt einen Grund, weshalb sie da sind. Sie gehören zu dir wie deinen Augen oder deine Hände. Deine Träume weisen dir den Weg. Sie führen dich dorthin, wo Glück und Freude auf dich warten. 

Es gibt so viele Träume und du hast nach und nach die Möglichkeit, sie zu verwirklichen. Aber nimm sie ernst und sei achtsam, dass sie NIEMALS verloren gehen.

 

 

Copyright © 2018 Christina Vikoler