Im Land der Riesen

 

Endlich Sommerferien!

Tom und Ida verabschieden sich von ihren Klassen und laufen zum großen Eingang, wo Mama und Papa schon auf sie warten.

„Ab heute haben wir frei!“ brüllt Tom.

„Ja, nie mehr Schule“ stimmt Ida mit ein und hüpft vor lauter Freude.

Mama und Papa lachen.

„Zumindest für sechs Wochen“ ermahnt Papa und nimmt seine beiden Kinder an die Hand. Tom an die rechte und Ida an die linke.

Mama nimmt Toms andere Hand und zu viert spazieren sie zur Eisdiele.

Heute gibt es kein „normales“ Eis, denn Tom und Ida dürfen sich einen großen Eisbecher aussuchen.

Ida nimmt einen Clown-Becher. Da sind drin: Zwei Kugeln Fruchteis, eine Handvoll Smarties und eine Eiswaffel. Die steckt umgekehrt auf einer Eiskugel und soll den Hut darstellen.

Schnell macht Papa ein Foto von Ida und dem Eisclown.

Tom hat einen Riesen-Becher bestellt. Der ist nicht nur riesengroß, sondern er sieht auch aus wie ein echter Riese. In einer Kugel Vanilleeis steckt eine dicke Knollennase aus Marzipan und vom Kopf hängen lange strubbelige Haare aus Spaghettieis. Einen zotteligen Bart hat der Riese auch und ist fast ein wenig furchteinflößend.

Doch Tom weiß, dass er keinen echten Riesen vor sich hat, sondern superleckeres Eis. Schnell ist der Riese aufgegessen und in Toms Bauch gelandet.

Tom und Ida freuen sich schon, denn morgen machen die beiden mit Oma einen Ausflug. Wohin, hat Oma nicht verraten. Es soll eine Überraschung sein.

 

Am nächsten Tag holt Oma die beiden schon früh zu Hause ab. Oma hat eine dunkelblaue Wanderhose an und ein kariertes Hemd. Auf dem Rücken trägt sie einen großen Rucksack, an dem auf der einen Seite eine Wasserflasche baumelt und auf der anderen Seite ein Sonnenhut.

„Gehen wir wandern?“ fragt Ida.

„Gut geraten, mein Schatz“ antwortet Oma.

Jetzt kommt Tom dahergelaufen.

„Juhu! Wir fahren in die Berge!“

 

Zuerst müssen die drei mit der U-Bahn zum Hauptbahnhof. Dort steigen sie in den Zug und nach einer Stunde Fahrt durch eine wunderschöne hügelige Landschaft kommen sie endlich an ihr Ziel.

Oma schultert ihren schweren Rucksack und dann geht es los.

Über einen breiten Wanderweg geht es zu Fuß hinauf zu einer schönen Almhütte, die mitten auf einer saftigen Wiese steht.

„Ich habe Hunger“, mault Ida und setzt sich auf die Wiese.

„Ich auch“ schnauft Tom.

Auch ihn hat der Fußmarsch müde gemacht.

„Wir werden auf der Hütte etwas essen und dann legen wir uns auf die Wiese und genießen die Sonne. Ich habe nämlich eine Decke mitgebracht.“

 

Auf der Hütte gibt es nicht sehr viele Gerichte, aber zum Glück steht Kaiserschmarrn auf der Karte und das mögen Ida und Tom beide gern.

Oma bestellt sich Weißwürste mit einer Brezel, weil es noch vor 12 Uhr ist. Und Weißwürste müssen vor Mittag gegessen werden, das ist so Brauch.

 

Nach dem Essen sagt Oma:

„Es gibt noch Nachspeise, bei mir im Rucksack! Kommt, wir legen uns auf die Wiese und essen den Kuchen, den ich bis hier hoch geschleppt habe. Deshalb muss er auch aufgegessen werden.“

 

An einem schattigen Plätzchen breitet Oma die Decke aus und holt den Streuselkuchen aus einer Dose.

Mmmmhhh! Lecker!

Oma ist die weltbeste Bäckerin, denkt Tom.

 

Während er so kaut, fällt ihm ein, was er gestern Papa schon fragen wollte.

„Du, Oma, gibt es eigentlich Riesen?“

„Riesen?“, fragt Oma erstaunt „Wie kommst du denn darauf?“

„Tom hat gestern einen Riesen gegessen“ ruft Ida dazwischen.

„Und du einen Clown, dumme Kuh“ erwidert Tom und zieht Ida an ihrem Zopf.

„Aua! Das tut weh!“

 

Oma verstaut die Dose in ihrem Rucksack.

„Bevor ihr euch jetzt richtig in die Haare kommt, werde ich euch eine Geschichte erzählen.“

„Ja bitte Oma, eine Geschichte!“ rufen beide gleichzeitig. Schnell hören Tom und Ida auf, sich zu zanken.

„Also“ sagt Oma „da du mich nach den Riesen gefragt hast, werde ich euch etwas von dem Land der Riesen erzählen. Und wenn die Geschichte zu Ende ist, könnt ihr selbst entscheiden, ob es die Riesen gibt oder nicht.“

Tom und Ida nicken.

„Na dann mal los...“

 

„In alten Zeiten, es ist schon lange, lange her, gab es ein Land, in dem nur große Menschen wohnten. In diesem Land waren nicht nur die Menschen riesengroß, sondern alles, was es gab. Und das war dort auch ganz normal, denn das Land war das Land der Riesen. Bei den Riesen ist es so: Ihre Nasen gleichen riesigen Melonen, ihre Füße, ja, ihre Füße sind so groß wie halbe Fußballfelder und, nicht zu vergessen, ihre Beine. Manche ihrer Beine sind so hoch wie ein Kirchturm, vom Boden bis zur Spitze.

Für uns mag das riesengroß sein, aber für einen Riesen ist das alles ganz normal.

 

Das Land, in dem die Riesen damals lebten, lag ziemlich versteckt hinter einem hohen Gebirge, denn die Riesen fühlten sich dort wohl und sicher. Schließlich gab es dort etwas, was noch viel größer und höher war als sie selbst. Und das war für die Riesen ziemlich beruhigend. Sie mochten es sehr, in den Bergen zu leben und oft hatten sie das Gefühl, mit ihnen zu verschmelzen, weil sie sie so sehr liebten.

 

Einst hatten sich die Riesen in dieses Land zurückgezogen, weil sie sich von den Menschen bedroht fühlten. Die hatten nämlich behauptet, dass Riesen furchterregend und gefährlich seien.

Dabei hatte es Zeiten gegeben, in denen die Riesen ganz friedlich unter den Menschen lebten. Das war damals ganz normal und die meisten Menschen waren froh, dass es Riesen gab, weil sie sie vor Gefahren beschützten. Denn ab und zu gab es feindliche Angriffe und die wurden von den Riesen mühelos abgewehrt. Wenn Feinde in das Land einmarschierten, wurden die Riesen vorgeschickt. Die machten dann einen Spaziergang und jagten ganz beiläufig den Angreifern einen solchen Schrecken ein, dass sie freiwillig den Rückzug antraten. Und das schneller, als ihre Beine sie tragen konnten. Denn solche Ungeheuer hatten viele noch nie gesehen.

 

Deshalb war das Leben der Menschen, als sie mit den Riesen noch zusammen lebten, meist friedlich und sicher.

Doch irgendwann fingen die Menschen an, schlecht über die Riesen zu reden und ihnen allerhand schlimme Dinge zuzuschreiben, die sie selbst begangen hatten.

Die Menschen behaupteten, dass die Riesen bösartig und gefährlich seien. Denn wenn sie es wollten, dann konnten sie einen Menschen zwischen zwei Fingern zerquetschen oder ihre Häuser mit nur einem ihren Zehen zertrampeln. Aber das hatten die Menschen nur erfunden, um jemand die Schuld zu geben, wenn es ihnen nicht gut ging. Denn manchmal fühlten sich die Menschen klein und hilflos und waren neidisch auf die Riesen.

 

In Wahrheit aber waren die Riesen gütig und scheu. Seit jeher waren sie den Menschen wohlgesinnt und unterstützten sie, wo sie nur konnten. Deshalb verletzte es sie sehr, als die Menschen anfingen, schlimme Lügen über sie zu verbreiten. Und irgendwann hatten sie von den Unwahrheiten der Menschen so genug, dass sie sich immer mehr von ihnen zurückzogen.

 

Die Riesen beschlossen schließlich, in ein eigenes Land zu ziehen, das so versteckt hinter den hohen Bergen lag, dass kein Mensch es jemals finden würde. Dort konnten sie in Ruhe und Sicherheit leben. Auch verbreitete hier niemand Unwahrheiten über sie, denn es gab ja nur die Riesen.

 

Die Menschen jedoch bereuten ihr schlechtes Gerede ziemlich schnell. Denn als die Riesen weg waren, drang ein feindliches Heer in ihr Land und es gab niemand mehr, der sie beschützte. Schnell kam Leid über die Menschen und alle wünschten sich die Riesen zurück. Doch leider war es zu dem Zeitpunkt schon zu spät.“

 

„Ich glaube, ich mag die Riesen“, sagt Ida.

„Ich auch! Wie dumm die Menschen doch waren, oder Oma?“

Oma streicht Tom sanft über's Haar.

 

„Ja, die Menschen waren sehr dumm. Denn hätten sie die Riesen geschätzt und respektiert, hätte es in ihrem Land weiter Frieden gegeben.

Nun aber hatten sich die Riesen in ihr eigenes Land zurückgezogen und wagten es nicht mehr, einen Blick über die Berge zu werfen, weil sie Angst hatten, dass die Menschen ihr Land finden würden. Die Riesen waren scheu und misstrauisch geworden und dachten nicht mehr viel Gutes über die Menschen.

 

Doch unter den Riesen gab es zwei, die ein wenig anders waren als die anderen. Sie waren jung und hatten noch nie unter Menschen gelebt. Ja, sie hatten noch nie einen Menschen gesehen und ihre Eltern hatten ihnen nichts von den Menschen erzählt. Nur ihre Großeltern hatten sie vor den Menschen gewarnt, aber das nahmen sie nicht wirklich ernst.

Die beiden Riesen, die ein wenig anders waren, als die anderen, hießen Korat und Mur. Sie waren liebenswürdig, lebensfroh und seit ein paar Monaten ein Ehepaar. Korat hatte am Waldrand ein schönes Riesenhaus für sie gebaut, mit einem kleinen Gärtchen rundherum.

Fast jeden Sonntag luden sie andere Riesen zum Essen ein oder zum Nachmittagstee, wenn Mur einen frischen Kuchen gebacken hatte. Mur konnte wunderbare Kuchen backen und die anderen Riesen kamen gern, wenn sie eingeladen wurden."

 

"Und nun, ihr zwei. Was denkt ihr, wie groß ist wohl so ein Riesen-Kuchen?" fragt Oma.

„Zwölf Meter mindestens“ platzt es aus Tom heraus.

„Hundert Meter“ brüllt Ida.

Oma lacht.

„Na, das ist dann doch ein bisschen übertrieben. Aber ihr habt recht. So ein Riesenkuchen ist auf jeden Fall riesengroß und stellt euch mal die Kuchenform vor...“

„Weiter!“ sagt Ida und stupst Oma mit ihrem kleinen Zeigefinger in den Oberschenkel.

„Na dann...“ Oma seufzt.

 

„Es war jedenfalls alles sehr ruhig und harmonisch im Land der Riesen. Doch an einem stillen, heißen Sommertag geschah etwas, was den Frieden der Riesen ein klein wenig ins Wanken und das kleine Land in Aufruhr brachte.

 

An diesem Tag fällte der Riese Darius im Wald einen Baum und mitten in seiner Arbeit glaubte er, im Dickicht eine kleine Gestalt zu sehen. Ein Mensch, dachte er. Aber so ganz sicher war er sich auch nicht, denn wirklich gesehen hatte er nur einen roten Hut und war dann auch schnell losgerannt, um die anderen Riesen zu warnen.

Als er ihnen von seinem Erlebnis berichtete, waren die Riesen geteilter Meinung. Die älteren unter ihnen bekamen sofort versteinerte Mienen, denn wenn es stimmte, dass ein Mensch in Land gekommen war, bedeutete das Gefahr. Zu groß waren noch ihre Wunden aus vergangenen Zeiten.

 

Die jüngeren Riesen jedoch lachten und machten sich lustig über Darius. Sie scherzten und meinten, dass er bei Mittagessen wohl ein Gläschen Wein zu viel getrunken habe.

Der arme Riese Darius ließ sich leicht einschüchtern und so war er sich plötzlich nicht mehr so sicher, ob er wirklich das gesehen hatte, was er behauptete.

Die älteren Riesen jedoch nahmen Darius mehr als ernst, bewaffneten sich mit Rechen oder Stöcken und hielten nach dem Eindringling Ausschau.

 

Die Nachricht, dass ein Mensch im Land war, verbreitete sich rasch und so glaubten die einen an eine echte Gefahr und die anderen an eine Lügengeschichte, die sich ein von zu viel Wein beschwipster Riese ausgedacht hatte. Jedenfalls hatte jeder im Land eine Meinung dazu und es wurde lauthals diskutiert, ob ein Mensch nun wirklich gefährlich sei oder nicht.

 

Doch ein einziger Riese bekam davon rein gar nichts mit und zwar deshalb, weil er zuviel Nachtisch gegessen und ein Gläschen Erdbeerlikör zuviel getrunken hatte. Und wahrscheinlich auch, weil dieser Riese ein wenig zu unbeschwert und zu glücklich in seinem Leben war. Wenn man das überhaupt sein konnte.

 

Jedenfalls handelte es sich um den Riesen Korat, der an jenem Nachmittag in einem schattigen Plätzchen am Fluss lag und seinen kleinen Rausch ausschlief. Mur, seine Ehefrau, hatte wieder einmal Riesenschokokuchen gebacken und er hatte definitiv ein Stück zuviel davon gegessen. Und das, obwohl Mur ihn gewarnt hatte.

 

Korat hatte seine Arme nach hinten, seine Beine nach vorne und den dicken Bauch in die Luft gestreckt und so schlief er tief und fest und schnarchte dabei so laut, dass er mit seinem Getöse alle Insekten und Vögel verscheuchte.

Daher kriegte er auch gar nicht mit, dass sich ihm aus den meterhohen Grasbüscheln ein bleicher Winzling näherte. Wie sollte Korat das auch mitbekommen?

 

In seinen Träumen befand er sich nämlich gerade in einem anderen Land, dem Schokokuchenland. Man hatte ihm soeben die Ehrenbürgerschaft verliehen, und zwar deshalb, weil er der derjenige war, der Schokokuchen am meisten liebte. Von allen Riesen. Und wie hatte er das bewiesen? Er hatte in einem Mal zwanzig Schokokuchen in sich hineingeworfen und aufgegessen. Das war eine Ehrung wert, fand der Präsident des Schokokuchenlandes und so wurde dem Riesen Korat diese besondere Ehre zuteil. Und was hatte er davon? Nun, er durfte so viele Schokokuchen essen, wie er wollte. Und das jeden Tag.

 

„Ich will auch ins Schokokuchenland“, sagte Ida.

„Zuviel Schokolade ist aber ungesund. Dann wird dein Bauch noch dicker. So wie der von Korat“.

Tom strahlte, Oma lachte und Ida schmollte.

„Das stimmt, zuviel Schokolade ist nicht gesund. Aber ein wenig davon, ist ok. Tom, sei nicht so gemein zu deiner Schwester.“

„Wie geht die Geschichte weiter“, fragt Tom und versucht abzulenken. Er mag es nicht, wenn Oma ihn ermahnt.

Zum Glück erzählt Oma gleich weiter.

 

„Also, der Winzling kam aus dem Wald und wunderte sich darüber, in welch merkwürdige Gegend er gekommen war. Denn die Bäume waren hier so groß gewachsen, dass er nicht bis zu den Spitzen sehen konnte. Und er war an einem Pilz vorbeiwandert, der ihn meterhoch überragte. Ja, und die Grasbüschel waren wie grünes hohes Dickicht, durch das er erst einmal hindurch kommen musste. Zudem hörte er gerade einen Lärm, der wie Donnergrollen war und sich anhörte, als würde gleich ein schweres Gewitter aufziehen.

 

Doch der Himmel war strahlend blau und ein Unwetter schien nicht in Sicht. Der bleiche Winzling, der einen roten Hut mit schwarzem Band auf seinem Kopf trug, beschloss, mutig zu sein und dorthin zu gehen, woher das Getöse kam. Vielleicht handelte es sich ja auch nur um einen Fluss.

 

Der Winzling, der eigentlich ein junger Wanderbursche war, schlich sich durch das Dickicht, bis das bedrohliche Dröhnen so laut wurde, dass es ihn fast nach hinten warf. Schnell klammerte sich der junge Mann an einen Grashalm. Vorsichtig schaute er sich um und spähte durch das Gestrüpp.

 

Da sah er vor sich einen Berg langer dunkler Fäden, die sich mit jedem Donnergrollen leicht bewegten.

Der Winzling erschrak. Und doch wollte er sich das Gebilde aus der Nähe ansehen.

Er nahm seinen ganzen Mut zusammen und nahm einen dieser Fäden in die Hand. Er tastete und schnüffelte so lange an ihm herum, bis er irgendwann übermütig wurde und daran zog. Er zog mit voller Kraft und als er immer weiter zog, wurde er zuerst durch die Luft geschleudert und landete dann mit dem dicken Faden in der Hand mitten im Dickicht.

Das donnernde Getöse hatte plötzlich aufgehört und der vor ihm liegende Fadenberg begann sich zu bewegen. Nun wurde der Winzling nun noch bleicher als er ohnehin schon war. Er duckte sich und brachte sich hinter einem Grashalm in Sicherheit.“

 

Oma nimmt einen Schluck Wasser aus der Trinkflasche und sieht Tom und Ida an. Die beiden sagen keinen Mucks und sind ganz konzentriert bei der Sache.

„Bitte schnell weiter“ sagt Ida.

„Ok, also dann...“ sagt Oma und atmet noch einmal tief durch.

 

„Auf einmal krachte und knackste es überall um ihn herum und die Erde fing an zu beben. Der Winzling wusste nicht, wie ihm geschah. Er legte sich zitternd auf den Boden und hoffte, dass das Erdbeben bald vorbei sei. Doch unter ihm schwankte es immer mehr und die Grasbüschel, die soeben noch friedlich im hellen Sonnenlicht hin- und her wogen, bogen sich plötzlich so als würde ein heftiger Sturm über sie hinwegfegen.

Dem jungen Wanderburschen klapperten vor lauter Angst die Zähne und er zitterte am ganzen Leib. In welche gefährliche Gegend war er da geraten!

 

Die Erde bebte, das meterhohe Gras bog sich und plötzlich verdunkelte sich auch noch die Sonne.

Als der Winzling aufsah, bemerkte er, dass sich ein dunkler Schatten über ihn beugte.

'Jetzt nur nicht die Nerven verlieren!' sagte er zu sich selbst.

Dann murmelte er vor sich her: 'Alles ist gut', 'Alles ist gut', 'Alles ist gut'.

Doch nichts war gut, denn die Stimmung, die ohnehin schon bedrohlich war, wurde noch bedrohlicher. Und der junge, bleiche Wanderbursche drückte sich jetzt noch mehr in den Boden und aus seinen Poren strömte der kalte Schweiß.

 

Dummerweise hatte der junge Mann eine Angewohnheit: Immer wenn er Angst hatte - und das kam manchmal vor - fing es in seiner Nase an zu kribbeln und er musste nießen. Und das geschah genau in diesem Moment, als er sich vor der herannahenden Gefahr in Sicherheit bringen wollte. Der Wanderbursche wollte still und unsichtbar sein, doch das Jucken in seiner Nase war so stark, dass er laut anfing zu nießen, und zwar gleich drei Mal hintereinander. Oh je!

Hoffentlich passiert jetzt nichts Schlimmes, dachte er.

Doch kaum hatte er diesen Gedanken zuende gedacht, wurde er auch schon an seinem Hemd gepackt und hoch in die Lüfte gehoben, sodass ihm ganz schwindelig wurde.

 

„Wie blöd“ meint Ida. „Warum musste er bloß niesen?“

„Muss man halt“ sagt Tom und rammt seinen Ellbogen in Idas Seite.

„Autsch, du Blödmann. Das tut weh!“

„Wenn ihr wissen wollt, wie's weitergeht, dann hört jetzt auf!“

„Sei ruhig, dumme Kuh“ zischt Tom noch einmal Richtung Ida.

Ida schmollt.

„Die Geschichte geht weiter...“ sagt Oma fröhlich. Tom und Ida hören jetzt wieder aufmerksam zu.

 

„Der Riese Korat hatte lange tief und fest geschlafen, war in seinen Träumen im Schokokuchenland gewesen und zwischen köstlichen Leckereien gewandelt. Was er doch alles erlebt hatte!

Doch irgendwann holte ihn ein stechender Schmerz auf dem Kopf schlagartig aus seinem Traum. Es war, als hätte ihn jemand mit einer Nadel in den Kopf gestochen. Oder ein paar Haare ausgerissen. So eine Frechheit! Nur seine Frau Mur durfte ihm manchmal ein Haar ausreißen, wenn sie böse auf ihn war.

 

Der Riese Korat stand auf, klopfte sich verärgert die Grasbüschel von der Hose und sah sich nach dem Störenfried um. Doch zu sehen war niemand.

Na gut, dann wollte er sich mal auf den Nachhauseweg machen. Sein Traum hatte ihn ohnehin wieder hungrig gemacht.

 

Doch als er sich auf den Weg begab, hörte er ein leises Fiepen und zwar genau drei Mal. Korat, der zwar manchmal schlecht hörte, aber gute Augen hatte, blickte zu Boden und da sah er einen winzigen roten Fleck, der sich ein wenig bewegte. Er beugte sich nach unten und tastete mit seinen wurstigen Fingern den Boden ab. Was für ein roter Käfer lief da durchs Gestrüpp?

Doch als  Korat aber näher hinsah und das Tier aufhob, staunte er nicht schlecht. Der Käfer sah aus wie ein Riese, nur in winzig klein.

 

Der Winzling zappelte in der Luft herum und schaute Korat ängstlich an.

„Was haben wir denn da?"

Der Winzling lief jetzt im Gesicht krebsrot an und fuchtelte mit den Armen vor sich her.

„Lass mich runter“ schrie der Kleine.

„Zuerst beantwortest du meine Frage.“

„Lass mich runter“ schrie der Winzling nochmal.

„Anscheinend verstehst du meine Sprache nicht“ sagte Korat.

„Ich krieg hier oben keine Luft“ japste der Kleine. „Lass mich runter.“

Mittlerweile war sein Gesicht so rot angelaufen, dass es aussah wie eine reife Erdbeere.

„Zuerst sagst du mir aber, wer du bist.“

„Ich bin ein Mensch. Lass mich gefälligst runter."

Der Riese Korat setzte den Kleinen ab und musste mit ansehen, wie der sich hinter den nächsten Grashalb stellte und sich übergab.

 

Igittigitt, dachte sich Korat, Das fängt ja gut an!

Wie konnte es sein, dass die Riesen sagten, die Menschen seien gefährlich. Gefährlich schien ihm dieser Bursche nicht. Ganz im Gegenteil, Korat hatte großes Mitleid mit dem Winzling.

 

Nachdem sich der mit dem Handrücken den Mund abgewischt und sich einigermaßen erholt hatte, wurde ihm bewusst, dass er sich in Lebensgefahr befand. Es musste von hier weg und zwar so schnell es ging!

Er war im Land der Riesen gelandet und seine Großmutter hatte ihn immer vor ihnen gewarnt. „Ein Riese“ hatte sie gesagt „ist das gefährlichste Wesen auf dieser Welt. Er ist groß wie ein Berg und stark wie tausend der stärksten Menschen. Wehe dem, der einem Riesen begegnet, dessen letztes Stündchen hat geschlagen. Es werden nicht drei Sekunden vergehen und ein Riese wird ihn wie eine Fliege zwischen Daumen und Zeigefinger zermalmen.“

 

Schnell griff der Wanderbursche zu einem Bündel und lief um sein Leben.

Doch er hatte nicht mit Korat gerechnet, der zwar etwas ungelenk und langsam war, aber glasklar sehen konnte. Geschwind packte er den Kerl nochmal am Rücken und hob ihn auf seine linke Hand.

 

„Das ist also ein Mensch“ sagte Korat mehr zu sich als zu dem Winzling. Er wunderte sich, wie klein, dünn und schwächlich die Menschen waren und er wunderte sich über die Warnungen seiner Großmutter.

„Dann erzähl mal“, sagte er zu dem Knirps.

„Was willst du von mir?“ Der Knirps war immer noch außer Atem und voller Angst.

„Naja, jetzt wo du da bist, will ich die Gelegenheit nutzen, dass du mir alles über die Menschen erzählst.“

„Mehr nicht?“

„Naja, wenn du schon fragst, könntest du mir auch gleich noch sagen, ob du schon einmal im Schokokuchenland warst.“

„Nein,“ antwortete der Bursche etwas verdutzt „von dem Land habe ich noch nie etwas gehört. Aber bei Schokokuchen kenne ich mich aus.“

„Ja?“ fragte Korat mit glänzenden Augen.

„Schokokuchen ist nämlich mein Lieblingskuchen.“

„Esst ihr Menschen auch Schokokuchen?“ Korat konnte es nicht glauben.

„Aber natürlich, was denkst du denn? Ohne Schokokuchen wäre das Leben halb so schön" sagte der Winzling.

Korat strahlte jetzt richtig. Vor sich hatte er einen Menschen und der liebte Schokokuchen wie er. Nicht zu fassen! Korat dachte an Murs leckeren Kuchen, den er zu Mittag gegessen hatte und ihm lief wieder das Wasser im Mund zusammen.

Nun hatte er eine Idee. Er wollte so schnell wie möglich zu dem Schokokuchen, der in Murs Küche stand. Da wollte er den Knirps doch einfach mitnehmen. Denn wenn er Schokokuchen liebte, konnte er so gefährlich nicht sein. Und Mur würde sich bestimmt über diesen ungewöhnlichen Gast freuen.

 

„Wo willst du hin, Riese?“ schrie der Winzling, als Korat sich plötzlich auf den Heimweg machte.

„Überraschung“ antwortete Korat etwas außer Atem. Sein Magen knurrte und er hatte es eilig.

Doch noch bevor er zu dem Wäldchen kam, das zu deinem Haus führte, kam ihm Mur schon entgegen gelaufen.

„Da bist du ja! Ich habe mir schon große Sorgen um dich gemacht! Du weißt gar nicht, was hier alles passiert ist. Der Riese Darius hat im Wald einen Menschen gesehen, naja, er glaubte, er habe einen Menschen gesehen. Alle sind ganz aufgeregt! Weißt du, Korat, Menschen sind sehr gefährlich. Deshalb hoffe ich, dass...“

Mur war sehr aufgeregt und fuchtelte die ganze Zeit mit ihren Händen vor Korat herum.

„Gibt es noch Schokokuchen?“ fragte Korat seelenruhig, ging schnurstracks in die Küche und lugte unter das weiße Tuch, das seine Frau auf die Süßspeise gelegt hatte, um sie vor den Riesenfliegen zu schützen.

„Mur, wir haben einen Gast“ sagte er.

„Einen Gast? Heute? Na, warum nicht? Es ist ja noch Schokokuchen da. Bitte ihn doch herein, Korat.“

Korat lächelte seine Frau an, hob seine offene linke Hand nach oben und stellte ihr den Gast vor.

 

Mur tat einen lauten Schrei, machte einen Satz nach hinten und schlug sich die Hand vor den Mund. Sie war kreidebleich.

„Dann hatte Darius also recht...“ flüsterte sie und rannte aus dem Haus.

Indessen holte Korat einen kleinen Teller und eine Gabel aus dem Schrank, schnitt ein Stück Riesen-Schoko-Kuchen ab und stellte es dem Burschen hin.

„Das ist Murs weltbester Schokokuchen. Hier, probier mal“ sagte Korat.

„Hast du vielleicht auch eine kleinere Gabel?“

Korat stutzte, sah zuerst den Winzling an, dann den Kuchenteller, dann die Gabel. Allein um die Gabel anzuheben, hätte der Knirps mindestens fünf Helfer gebraucht.

Und wenn der Knirps einen winzigen Krümel aß, war er bestimmt schon satt. Korat sah vom Kuchen zum Winzling, vom Winzling zur Gabel und dann wieder zum Kuchen.

Wie dumm von mir, dachte Korat.

Dann fing er laut an zu lachen und zwar über sich selbst und seine eigene Dummheit.

 

Korat lachte und lachte und konnte sich gar nicht mehr einkriegen. Und dann fing auch noch der Knirps an zu lachen, weil er begriffen hatte, in welch lustiger Situation sie sich befanden. Der Riese Korat und das kleine Menschlein lachten im Chor. Eine tiefe Bassstimme und ein helles Fiepen. Sie lachten und lachten so herzhaft, bis ihnen die Tränen über die Wangen kullerten. Korat brach ein winzig kleines Stück vom Kuchen ab und gab es dem Knirps, der es sich richtig schmecken ließ. Korat aß den Rest.

 

Und dann erzählte der Winzling ihm von den Menschen. Wie sie lebten, was sie den lieben langen Tag so taten und was sie sich über die Riesen erzählten. Dann erzählte Korat, wie es ist, ein Riese zu sein, was er den lieben langen Tag so tat und was sich die Riesen über die Menschen so erzählten.

 

Als sie beide zu Ende geredet hatten, schauten sich der Winzling und Korat lange nachdenklich an und dann brachen sie wieder in schallendes Gelächter aus. Denn beide hatten erkannt, dass es keine so großen Unterschiede zwischen einem Riesenleben und Menschenleben gab. Und sie hatten erfahren, dass die Menschen und die Riesen ganz ähnliche Dinge voneinander dachten. Die Menschen dachten, dass Riesen gefährlich seien und die Riesen dachten von den Menschen genau so. Seit Jahren hatten Menschen und Riesen nicht mehr miteinander gesprochen und so waren über die Zeit hinweg ihre Herzen versteinert und das Misstrauen dem anderen gegenüber noch größer geworden.

 

Korat war dafür, das ab jetzt zu ändern. Schnurstracks ging er in den Keller und holte eine Flasche seines Lieblings-Erdbeerlikörs aus dem Regal. Dem Winzling goss er einen Tropfen auf einen kleinen Löffel und den Rest trank er selbst. Die neu entstandene Freundschaft musste gefeiert werden.

 

Am späten Nachmittag kam Mur zurück und mit ihr eine Gruppe von Riesen, die sich vergewissern wollten, ob Mur auch die Wahrheit erzählt hatte. Ganz vorsichtig wagten sie einen Blick in die Küche, denn sie wussten nicht, ob sie sich in Gefahr begaben.

Doch das Bild, das sich ihnen bot, zauberte Mur und den anderen Riesen, die dort im Eingangsbereich standen, ein Lächeln ins Gesicht und alle Angst war wie weggeblasen.

Korat saß mit glühenden Wangen am Küchentisch und hielt mit der rechten Hand ein Schnapsglas in die Höhe. Sein Blick war ein wenig starr, aber seine Augen glänzten freundlich. Vor ihm stand auf der hölzernen Tischplatte ein Winzling, der gerade eine Art Tanz aufzuführen schien. Auch er hatte feuerrote Wangen und seine Augen funkelten. Korat stellte das Schnapsglas ab und klatschte in die Hände. Die beiden schienen sich prächtig zu amüsieren.

 

Als Korat die anderen Riesen bemerkte, lud er sie alle ein, mit ihm und dem Menschen ein Fest zu feiern.

Die Riesen zögerten nur einen kurzen Moment lang. Dann ließen sie sich von Korats Euphorie mitreißen und traten in die Küche. Dort stellte Korat dem Winzling seine Frau Mur und jeden einzelnen Riesen vor. Gemeinsam aßen Sie die Reste von Murs köstlichem Schokokuchen auf und tranken zwei Flaschen Erdbeerlikör, die Korat ein wenig torkelnd aus dem Keller holte.

 

Es war ein wunderschönes Fest, bei dem alle ausgelassen tanzten und es sich gutgehen ließen. Der Winzling war bester Laune und führte einmal auf der Schulter des einen Riesen, mal auf der Schulter des anderen akrobatische Kunststücke auf. Alle amüsierten sich prächtig.

Als das Fest langsam zu Ende ging, versprachen sich der Winzling und die Riesen, nie mehr schlecht über den jeweils anderen zu reden. Denn egal ob Mensch oder Riese, sie waren zwar verschieden, letztendlich aber doch gleich. Oder zumindest ähnlich.

 

Am nächsten Morgen begleiteten Korat und Mur den Wanderburschen zum Fluss. Da es Sommer war, war nicht besonders viel Wasser im Flussbett und so setzte sich Korat den Winzling auf die Schulter trug ihn auf die andere Seite.

Die beiden verabschiedeten sich herzlich voneinander und der Wanderbursche versprach, allen Menschen von der Güte und Großzügigkeit der Riesen zu erzählen. Und das tat er dann auch.

Jedem, der ihm auf seiner Wanderschaft begegnete, berichtete er von seinen Abenteuern im Land der Riesen.

 

Die Menschen machten zunächst große Augen, weil sie gleich an etwas Fürchterliches dachten. Aber der Wanderbursche erzählte mit so viel Begeisterung von den Riesen, dass ihm die anderen schnell Glauben schenkten.

 

Seitdem waren die Menschen neugierig geworden und so kam es, dass sich manch einer aufmachte, um selbst das Land der Riesen zu erkunden.

Und auch die Riesen hatten ihr Misstrauen abgelegt.

 

Seit der Winzling in ihr Land gekommen war, traut sich so manches Mal ein Riese zu den Menschen. Sie kommen aber nur zu jenen, die ein offenes Herz haben und die Güte der Riesen zu schätzen wissen. Es kommt des Öfteren auch vor, dass ein Riese einen Menschen ein Stückchen seines Weges trägt, wenn er gebeten wird.

Und wenn viele Menschen anderen Menschen von den Riesen erzählen, dann werden immer mehr Riesen zurückkommen und können so mit den Menschen gemeinsam die Erde ein klein wenig schöner machen.“

 

„Ich will auch auf eine Riesenschulter“, sagt Ida.

„Das kannst du! Bitte den Riesen Korat zu dir und sag ihm, er soll dich auf seine Schulter nehmen und ein Stückchen  weit tragen. Stell es dir einfach vor, dann geschieht es. Denn, wenn du daran glaubst, gibt es die Riesen. Auch wenn du sie nicht immer sehen kannst.“

„Ja, auf dem Heimweg. Ich bin nämlich ganz schön müde.“ sagt Tom.

„Au ja! Wir fragen die Riesen, ob sie uns zum Bahnhof tragen. Wollen wir das machen?“

 

Schnell packt Oma die Decke und die restlichen Sachen ein und gemeinsam laufen sie vergnügt den Wanderweg hinab. Tom und Ida sind gar nicht mehr müde, denn beide haben Korat und Mur gebeten, sie auf ihre Schultern zu setzen und den Berg hinab zu tragen. Es geht jetzt alles fast von alleine.

 

 

Copyright © 2018 Christina Vikoler